Heutzutage würde es einem kleinen Fußballverein wie dem SC Olympia Lorsch schwerfallen, einen Nationalspieler hervorzubringen. Denn wenn ein Talent heute herausragende Leistungen bringt, wird es bereits im jungen Alter von einem größeren Verein abgeworben, und wenn es dann tatsächlich Karriere macht, ist der erste Verein kaum noch eine Erwähnung wert.
Das war früher anders: In der Länderspiel-Statistik des am 19. April 1919 geborenen Ludwig Gärtner wird stets der SC Olympia Lorsch als sein Verein aufgeführt.
Ludwig Gärtner ging aus der Jugend des SC Olympia hervor, bei der sein Vater Adam in den dreißiger Jahren als Jugendleiter fungierte. Bereits im Alter von 16 Jahren schaffte er 1935 den Sprung in die erste Mannschaft. In einem Freundschaftsspiel gegen den FC 07 Bensheim gelang Ludwig Gärtner beim 4:3 der entscheidende Treffer, und spätestens nach dem 9:3-Erfolg bei Normannia Pfiffligheim war Gärtner nicht mehr aus der ersten Mannschaft wegzudenken: Mit sieben Toren stellte der Youngster bereits damals seine Stärke unter Beweis und überwand 1938 in der Aufstiegsrunde, in der die Olympia die Gauliga knapp verpasste, die gegnerischen Torsteher in sechs Spielen elf Mal.
Berufungen in diverse Auswahlmannschaften ließen nicht lange auf sich warten. Ein erster Höhepunkt in Gärtners Fußballkarriere war der Sichtungslehrgang für Nationalspieler im März 1937 in Duisburg-Wedau. Hier gab Nationaltrainer Sepp Herberger seinem Schützling den Tipp, sich auf Linksaußen umzustellen und vor allem mannschaftsdienlicher zu spielen.
Schon beim Spiel einer deutschen Auswahlelf im Mai 1937 in Wuppertal gegen Manchester City wusste Gärtner mit schnellem Flügelspiel über links zu gefallen.
Fast ein Heimspiel hatte Ludwig Gärtner, als er im März 1939 in Frankfurt in die deutsche B-Nationalmannschaft berufen wurde; beim 2:1-Erfolg gegen Italien gab er beide Vorlagen.
Der 27. August 1939 war dann nicht nur für Gärtner, sondern auch für die damalige Gemeinde Lorsch ein ganz großer Tag. Unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er in die deutsche A-Nationalmannschaft berufen, die allerdings in Pressburg gegen die Slowakei mit 0:2 unterlag. Sein damals erstes, jedoch einziges Länderspiel für Deutschland bestritt an diesem Tag auch der spätere Bundesligatrainer und Boulevardjournalist Max Merkel.
Bedingt durch den Krieg wurde Gärtner dann gezwungen, seinen geliebten Fußballsport als Gastspieler beim SV Jena zu betreiben. Dort erreichte den Lorscher die Einladung zum Länderspiel Deutschland gegen Bulgarien am 20. Oktober 1940 in München. Ludwig Gärtner war aber auch in der Nähe Cloppenburgs stationiert und in Fulda, wo er sich als Gastspieler in die Herzen der Anhänger von Borussia Fulda spielte.
In einer Programmvorschau auf das Spiel Deutschland – Bulgarien, die damals für 20 Pfennig zu erwerben war, heißt es unter anderem: „Gärtner hat auch mehrmals an Nachwuchslehrgängen des Reichsfachamtes Fußball teilgenommen und sich allemal als ein befähigter, flinker und gescheiter Spieler erwiesen. Er ist bestimmt kein geringeres Talent als der sächsische Linksaußen Arlt und verdient es, wieder einmal herangezogen zu werden, zumal, da Pessers Leistungen in den letzten Länderspielen nicht überzeugend sind, so dass es dringlich erscheint, andere Möglichkeiten zu prüfen.“
Bei Pesser handelt es sich um Hans Pesser, einen Linksaußen aus Wien, der 1938 der erste deutsche Spieler war, der bei einer WM des Feldes verwiesen wurde. Hans Pesser war nach dem Krieg Trainer mehrerer renommierter Wiener Vereine und trainierte eine Zeit lang auch die österreichische Nationalmannschaft.
In diesem Spiel gegen Bulgarien gelang Gärtner bereits in der zwölften Minute das 1:0 für Deutschland, was gestützt auf Daten des DFB das 450. Tor in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft war. Eine in Lorsch nach dem Krieg verbreitete Statistik weist diesen Treffer sogar als 500. der Länderspielgeschichte aus.
Ludwig Gärtner erzielte nicht nur diesen Treffer, sondern gab zu drei weiteren Toren durch Andreas Kupfer und Edmund Conen (2) die Vorlage. So war auch der „Kicker“ voll des Lobes über den Shooting-Star aus Südhessen:
Gärtner, so scheint es, ist heute auf Platz eins unter den Deutschen Linksaußen vorgestürmt. Mit seinem blitzschnellen Antritt, einer sauberen Ballführung, seiner Geradlinigkeit und seinem Torsinn. Wie er nach wenigen Minuten entschlossen und mit einem energischen „Ruckzuck“ die Walterische Steilvorlage ins bulgarische Tor feuerte, das erinnert uns an den kleinen Fath von einst. Dabei ist Gärtner geschmeidiger.
Leider blieb das Länderspiel in Stockholm am 5. Oktober 1941, Deutschland verlor gegen Schweden 2:4, das letzte in der Laufbahn des hoffnungsvollen Linksaußen aus der Klosterstadt, das bald darauf dem Krieg und seiner Gefangenschaft in Russland Tribut zollen musste.
Als Gärtner am 29. April 1949 aus der Gefangenschaft zurückkehrte, trug er aber einen großen Teil dazu bei, dass der SC Olympia noch einmal zum fußballerischen Aushängeschild der Region wurde. Gärtner, in Lorsch Inhaber eines Sportgeschäftes mit Toto-Lotto-Annahmestelle, spielte bis 1957 für die Olympia, darunter viele Jahre als Spielertrainer, war über viele Jahre Leiter der AH-Abteilung und bekleidete von 1972 bis 1978 das Amt des Zweiten Vorsitzenden.
Ludwig Gärtner starb am 6. Juni 1995 im Alter von 76 Jahren. Er wurde unter großer Anteilnahme der Lorscher Bevölkerung zu Grabe getragen.